LIEBE  IST  ANDERS

Vortrag von Dr. Beat Imhof ca. 1984

Als die blind- und taub geborene Helen Keller ihre Privatlehrerin fragte, was Liebe sei, vermochte diese ihr nur zu bedeuten , Liebe ist etwas unbeschreiblich Schönes, etwas Wunderbares und Beglückendes, für das es keine erklärenden Worte gibt. Da streichelte die kleine Helen zärtlich eine blühende Blume und fragte: "Ist das Liebe?" Auf die verneinende Antwort ging sie zum nahe gelegenen Brunnen, liess kühlendes Wasser durch ihre Finger gleiten und sagte: "Ist das Liebe?" Doch fand sie auch hier keine Bestätigung. In ihrem Verlangen, zu erfahren was Liebe ist, wandte sie ihre lichtlosen Augen der aufgehenden Sonne zu und wollte wissen: "Ist das Liebe?". Doch stets musste die Lehrerin dem wissbegierigen Mädchen in seine Hand schreiben: Liebe ist das alles nicht, Liebe ist anders. 

Liebe ist also nicht sichtbar, nicht hörbar, nicht greifbar. Liebe ist auch nicht machbar und wer von „faire l'amour“ spricht, verkennt das wahre Wesen der Liebe. Wenn wir über die Liebe nachdenken, stossen wir auf eine Menge Missverständnisse, die sich im Verlauf der Zeit um diesen vielfach missbrauchten Begriff angehäuft haben. 

Die alltäglichste Meinung ist wohl die, Liebe sei ein Gefühl. So schreibt der Psychologe Peter Lauster in seinem Buch - Die Liebe - Psychologie eines Phänomens (Econ Verlag 1980) - : "Die Liebe ist keine Sache des Verstandes, sondern eine Angelegenheit des Gefühls." 

Da bin ich entschieden anderer Meinung. Wir wissen doch alle, wie wechselhaft und trügerisch unsere Gefühle sein können. Müsste dies auch von der Liebe gelten? Wir reden doch davon, dass wahre Liebe selbst den Tod überdauert. Wenn dem so ist, und ich glaube daran, dann ist Liebe weit mehr als eine flüchtige Gefühlsregung. 

Was zwei Liebende zunächst zueinander treibt und drängt, ist Sympathie. Fast immer wird dieses seltsame Gefühl, für einander bestimmt und auserwählt zu sein, ja ohne einander nicht mehr leben zu können, fälschlicherweise als untrügliches Zeichen echter Liebeszuwendung verstanden. Die so genannte Liebe auf den ersten Blick hat in der Seelenverwandtschaft zweier Menschen ihre tiefere Ursache. Dass sich zwei bis anhin fremde Menschen bei ihrer ersten Begegnung sympathisch sind heisst nur, dass sie wesensverwandt sind, dass sie gleich empfinden und dass sie sich in ihrer Eigenart gegenseitig anziehen. Das ist aber noch lange nicht Liebe. Sympathie ist bestenfalls der Nährboden, auf dem das zarte Pflänzchen Liebe gedeihen kann.

Und mit Tag und Jahr langsam erstarken kann, sofern es nicht schon in den Anfängen erstirbt. So gesehen müsste eigentlich die Liebe wie ein Baum sein, dem immer kräftigere, tragfähigere Äste wachsen und dessen tief verankerte Wurzeln jedem Sturm widerstehen. Leider sind diese lebensfähigen Liebesbäume recht selten. Viele der hoffnungsvollen Bäumchen der Liebe erliegen frühen Frühlingsstürmen und ihr satt- und kraftloses Holz wird im verzehrenden Feuer von Trennung und Scheidung verheizt. Was zurück bleibt sind die Asche enttäuschter Hoffnungen und die Schlacken der Bitterkeit. 

In der Partnerwahl zieht sich nicht nur Gleiches und Ähnliches an, sondern auch Gegensätzliches. Heisst das Affinitätsgesetz „gleiches und gleiches gesellt sich gern“ .besagt das Polaritätsgesetz „Gegensätze ziehen sich an“. Vor allem im Bereich der geschlechtstypischen Unterschiede strebt der Mensch nach Ergänzung durch jene Eigenschaften des Liebespartners, die er an sich nicht kennt oder bei sich nicht entwickelt hat. Dieses gegenseitige  Ergänzungsbedürfnis beruht auf dem Streben des Menschen nach Ganzheit und Vollkommenheit. Sofern sich dieses nur auf der körperlich - seelischen Ebene abspielt, lässt sich da kaum ein Unterschied erkennen zwischen dem Menschen und der ihm biologisch nahe stehenden Tier- und Pflanzenwelt. Statt  von Liebe spricht man hier besser vom "Trick der Natur", der alle Wesen zur Weitergabe des Lebens drängt. Dieser Zauber von Anziehung und Faszination, von Eroberung und Hingabe verströmender Lebenskräfte ist seit undenklichen Zeiten auf die stets gleiche weise im Gang und zwingt alles Lebendige in den unaufhörlichen Kreislauf von Geburt und Tod. Ihm unterliegt auch der Mensch, meist unbewusst zwar, doch nicht weniger heftig als die uns artverwandten Geschöpfe der Natur. Liebe ist dies jedoch nicht. 

Unter der Wirkung des Affinitäts- und Polaritätsgesetzes suchen wir im geliebten Menschen zumeist uns selbst und unsere eigene Verwirklichung. Es geht um das Sich-Finden im anderen, ja sogar um die Projektion der eigenen unerkannten Seeleneigenschaften auf den Partner, den wir zum Spiegelbild eigener Wunschvorstellungen machen, die sich häufig genug als unecht und trügerisch erweisen. Daher schrieb C.G. Jung einmal: "Wer also nicht vorzieht, von seinen eigenen Illusionen zum Narren gehalten zu werden, der wird aus der sorgfältigen Analyse jeder Faszination als  Quintessenz ein Stück der eigenen Persönlichkeit herausziehen und langsam erkennen, dass wir in tausend Verkleidungen uns selber auf dem Pfade des Lebens immer wieder begegnen. „Dabei kann Liebesleid zur heilsamen Selbstfindung und zur notwendigen Reife führen, denn „man muss nicht enttäuscht, aber ernüchtert muss man sein, um zu wissen, was wahre Liebe ist“ (Abbe Pierre). Es gehört nämlich zu den alltäglichen Selbsttäuschungen Uerliebter, das trieb­hafte Verlangen nach körperlich-seelischer Verbindung zur Aufhebung der seelischen Gegensatzspannung schon als Liebe zu bezeichnen. Erst wenn wir diesen Egoismus zu zweit selbstlos überwinden, erfahren wir das Wunder der Liebe. Seien wir uns mit Georg Jünger bewusst: "Wir alle träumen davon, einen Menschen zu finden, der ganz eins ist mit uns. Weder erfüllt sich der Traum, noch wird er vergebens geträumt; wer ihn nicht geträumt, hat von der Liebe nie etwas begriffen." 

Liebe ist weder eine Fertigkeit noch hat sie etwas zu tun mit Raffinesse und technischem Können. Sie ist jene geistige Fähigkeit, die es uns ermöglicht positive Werte zu wollen. Liebe ist also zunächst eine Fähigkeit des Wollens. Dieser Aussage entspricht am sinnvollsten die italienische Liebes­erklärung „Ti voglio bene“ - ich will Dir gut. Da der Wille aber eine blinde Kraft ist, die notwendig das begehrt , was der Verstand ihr als erstrebens­wert vorstellt, gehört unbedingt auch der erkennende und unterscheidende Geist zur echten Liebesfähigkeit, denn nichts kann bewusst gewollt werden, was vorher nicht als subjektiv gut erkannt wird. Liebe ist demnach die Fähigkeit und ehrliche Bereitschaft, in wohlwollender Zuneigung das Gute für andere zu wollen und zu erkennen. Personenhafte Liebe ist also bejahendes Denken und positives Wollen für den Geliebten. 

Da unter allen erdgebundenen Geschöpfen allein dem Menschen dieses geistige Vermögen von Erkennen und Wollen zukommt, unterscheidet sich der Mensch durch seine Möglichkeit zu lieben und zu hassen vom Tier. 

Die erste Voraussetzung zu liebendem Tun ist das Bejahen und Lieben seiner selbst. Das hat nichts mit Eigenbezogenheit zu tun. Wer seinen Eigenwert erkennt, wer eine positive Einstellung hat zu sich selbst, der kann auch Ja sagen zur Eigenart eines anderen. Wer aber sich selber nicht für liebens­wert hält, der ist auch nicht liebesfähig. Dies meint das Bibelwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Mt 19,19). 

So gesehen beruht die Liebesschwäche nicht in erster Linie auf Gefühlsarmut oder Triebschwäche, sondern auf der Unfähigkeit, geistige Werte zu erkennen und zu wollen. Jedes zerbrochene Liebesglück und jede Ehescheidung hat daher letzten Endes zu tun mit dem Unvermögen des einen oder beider Partner, ge­meinsam nach geistigen Werten zu streben. Es geht in der Liebe immer um Wertverwirklichung. Wenn es in einer Liebesbindung nicht mehr stimmt, dann scheinen vordergründig charakterliche Schwächen, sexuelle Schwierigkeiten oder finanzielle Probleme die Hauptrolle zu spielen. Sieht man aber näher zu, merkt man bald, dass die beiden Partner ausser Tisch und Bett wenig Gemeinsames pflegen. 

Vor allem fehlt es an einer gemeinsamen religiösen Überzeugung, an einer übereinstimmenden geistigen Wertwelt, an einer tragfähigen weltanschaulichen Grundhaltung. Die innigste Herzensbindung ermüdet mit der Zeit und die tiefste Liebesbeziehung schläft bald einmal ein, wenn die Liebenden nicht fortwährend sich bemühen, aneinander geistig zu wachsen. So ist denn die Liebe nicht das, was man meint, wenn man miteinander anfängt, einen gemeinsamen Weg zu gehen. Deshalb finden wir die beinahe vollkommene, dauerhafte Übereinstimmung von Denken und Wollen zumeist nur bei reifen Liebespaaren. Diese haben in einem erfahrungsreichen Leben gelernt aufeinander einzugehen; keine Bewegung und keine Regung des anderen ist ihnen fremd, sie verstehen sich wort­los und schweigend stehen sie im Austausch ihrer Gedanken und Gefühle. Eine solche Liebe ist dauerhaft und beständig. Sie gleicht nicht der flüchtigen Laune eines Augenblicks. Weder Trauer noch Trennung vermag sie zu schmälern. Liebende können aufeinander warten. Ihre gemeinsame Zuversicht überbrückt Raum und Zeit. 

Diese Liebe sollte das höchste Verlangen und die letzte Sehnsucht eines jeden Menschen sein. Sie verleiht dem Leben erst den tieferen Sinn und gewährt Erfüllung in unserem Menschsein. Es muss aber eine selbstlose Liebe sein, die nicht nach Gegenliebe fragt, so wie sie Kahlil Gibran sieht, wenn er sagt: "Eine solche Liebe besitzt nicht, noch wird sie besessen, weil Liebe sich selbst genügt. Sie gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts, ausser von sich selbst." 

Die wahre Liebe wächst und gedeiht in der Tiefe eines ruhigen Gemüts. Sie liebt den Lärm nicht und nicht das Laute. Auf leisen Sohlen geht sie ihre verschwiegenen Wege. Die Einsamkeit ist ihr lieb und das All­einsein ist ihr nicht fremd. Nur in der Stille gedeihen die Gedanken der Liebe. Begegnen wir ihr wohl deshalb so selten, weil es überall zu laut und zu lärmig ist? Ein grosser Liebender, der Dichter Rainer Maria Rilke, hat dies wehmutsvoll empfunden, als er schrieb: 

Wenn es nur einmal ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und ungefähre verstummte
und auch das nachbarliche Lachen.
Wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderten am Wachen:

Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen, nur ein Lächeln lang,
um dich an alles Leben zu verschenken,
wie ein Dank. 

Freilich bleibt es der Liebe oft nicht erspart, leidvolle Wege, ja Umwege, Abwege und Irrwege zu gehen, bis sie zu sich selber findet. Krisen und Kränkungen werden dabei die notwendigen Hilfs- und Heilmittel, die dem Wachsen der Seele förderlich sind. Aus der schmerzlichen Liebesentfremdung erwächst bei ehrlichem Bemühen oft eine erhöhte Einsicht der Liebenden in ihre eigenen Unzulänglichkeiten und ein vertieftes Ahnen um ihr schicksalhaftes Zusammengehen, dessen alleiniger Sinn es nicht sein kann, ein Leben lang bloss einander anzugehören , um die Frist gemeinsamer Erdenjahre möglichst lust- und freudvoll zu erleben.

Gerade in einer partnerschaftlichen Liebe wird schicksalhaftes Geschehen in Gestalt von Entfremdung und Entzweiung nicht selten zur heilsnotwendigen Erschütterung führen, welche die Neu- und Wiedergeburt der echten Liebe erst möglich werden lässt. Daher sollte man das Ausmass einer Liebe nicht nach deren Werden, sondern nach deren Erfüllung messen, genauso wie man die Breite eines Stromes nicht an dessen Quelle, sondern an dessen Mündung richtig ermisst. 

von Dr. Beat Imhof / Kurs ca. 1984